ChatGPT lässt unser Gehirn vergessen?

Die erste ChatGPT-Gehirnstudie des MIT zeigt: 83,3% der KI-Nutzer:innen konnten sich nach dem Schreiben an keinen einzigen Satz ihres eigenen Textes erinnern. EEG-Messungen belegen reduzierte Gehirnaktivität zwischen wichtigen Regionen für Sprache und Gedächtnis. Diese Veränderungen bleiben auch nach der KI-Nutzung bestehen. Auch wenn das Sample sehr klein scheint, so unterstreicht es andere Studien zu ähnlichen Effekten (Google Effekt, Navigations Studie London Taxis etc) und zeigt wohl einen Trend auf, den ich übrigens auch selbst im Alltag erlebe. Die Lösung: “Erst denken, dann delegieren” – eigenständige kognitive Arbeit vor KI-Unterstützung schützt unsere Denkfähigkeiten und ermöglicht trotzdem effizientes Arbeiten

Die erwähnte Untersuchung des MIT Media Lab unter Leitung von Nataliya Kosmyna begleitete vier Monate lang 54 Studierende aus fünf Hochschulen im Grossraum Boston. Das Studiendesign war elegant in seiner Einfachheit: Drei Gruppen schrieben Essays zu standardisierten Themen — eine mit ChatGPT-Unterstützung, eine mit Google-Recherche, eine völlig ohne digitale Hilfsmittel.

Während die Teilnehmenden schrieben, zeichneten 32-Kanal-EEG-Geräte ihre Hirnaktivität auf. Parallel analysierten die Forschenden die entstehenden Texte und führten ausführliche Interviews. Besonders innovativ war der Einsatz der Dynamic Directed Transfer Function (dDTF), mit der sich gerichtete Verbindungen zwischen Gehirnregionen präzise erfassen lassen.

Diese Kombination aus neurophysiologischen Messungen, qualitativer Textanalyse und subjektiven Erfahrungsberichten macht die Studie zu einem Meilenstein in der Erforschung der Mensch-KI-Interaktion. Erstmals können wir objektiv messen, was ChatGPT mit unserem Denken macht — und die Ergebnisse sind aufschlussreich.

“Das Prinzip ist simpel: Erst denken, dann delegieren.”

Die Studie dokumentiert nicht nur kurzfristige Effekte, sondern verfolgte die Teilnehmenden über mehrere Sitzungen hinweg. Besonders interessant: Auch nachdem die ChatGPT-Nutzer:innen wieder eigenständig schrieben, blieben ihre neuronalen Aktivitätsmuster verändert. Das deutet auf neuroplastische Anpassungen hin — unser Gehirn gewöhnt sich an die KI-Unterstützung und passt seine Arbeitsweise entsprechend an.

Wenn das Gedächtnis versagt: Die 83-Prozent-Regel

Das wohl verblüffendste Ergebnis der Studie betrifft die Erinnerungsfähigkeit. In der ersten Testsitzung konnten 83,3% der ChatGPT-Nutzer:innen — das sind 15 von 18 Personen — keinen einzigen Satz aus ihrem zuvor verfassten Text korrekt wiedergeben. Nicht einen einzigen Satz ihres eigenen Textes.

Die EEG-Messungen zeigten parallel dazu eine deutliche Reduktion der neuronalen Konnektivität, besonders zwischen Parietal- und Temporallappen. Diese Gehirnregionen sind zentral für Sprachverarbeitung, Gedächtnisbildung und kreative Problemlösung. Vereinfacht gesagt: Die Areale, die normalerweise beim Schreiben und Denken zusammenarbeiten, kommunizierten weniger intensiv miteinander.

“Das Ziel ist nicht, KI zu meiden, sondern sie als das zu nutzen, was sie ist: ein mächtiges Werkzeug.” — Roger Basler de Rocager Basler de Roca

Diese Beobachtung passt zu einem fundamentalen Prinzip der Neurowissenschaft: “Use it or lose it” — was nicht benutzt wird, verkümmert. Wenn ChatGPT die Formulierungsarbeit übernimmt, werden die entsprechenden Gehirnfunktionen weniger beansprucht. Das Gehirn spart Energie, indem es diese Netzwerke herunterfährt.

Besonders bedenklich: Die reduzierten Aktivitätsmuster persistierten auch in späteren Sitzungen, als die Teilnehmenden wieder ohne KI-Unterstützung schrieben. Das deutet darauf hin, dass intensive ChatGPT-Nutzung nicht nur temporäre, sondern möglicherweise längerfristige Veränderungen in der Gehirnaktivität bewirkt.

Die Forschenden sprechen von einer “kognitiven Entlastung” — einem Phänomen, das wir bereits von anderen Technologien kennen. Nur diesmal geht es nicht um externe Speicher oder Rechenleistung, sondern um die Auslagerung von Kernkompetenzen wie Formulierung und Strukturierung von Gedanken.

“Unser Gehirn ist bemerkenswert anpassungsfähig, aber diese Anpassung erfolgt in beide Richtungen. Werden spezifische Fähigkeiten regelmässig trainiert, stärken sich die entsprechenden neuronalen Bahnen. Werden sie vernachlässigt, schwächen sie sich ab.” — Roger Basler de Rocager Basler de Roca

Die Wissenschaft hinter der kognitiven Entlastung

Die MIT-Ergebnisse überraschen Kognitionsforscher:innen nicht völlig. Bereits 2011 beschrieben Sparrow, Liu und Wegner den “Google-Effekt”: Menschen merken sich Informationen schlechter, wenn sie wissen, dass diese jederzeit online verfügbar sind. Das Gehirn konzentriert sich dann darauf, wo Informationen zu finden sind, statt sie selbst zu speichern.

Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die Forschung zu Londoner Taxifahrern. Deren Hippocampus — die Gehirnregion für räumliches Gedächtnis — ist messbar grösser als bei anderen Menschen. Der Grund: Sie müssen sich das komplexe Londoner Strassennetz ohne GPS merken. Studien zeigen jedoch, dass diese Vergrösserung zurückgeht, sobald Fahrer:innen regelmässig Navigationssysteme nutzen.

Ähnlich verhält es sich mit der Handschrift. Neuroimaging-Studien belegen, dass handschriftliches Schreiben andere und intensivere Gehirnaktivitäten auslöst als Tippen. Das physische Formen von Buchstaben aktiviert motorische, visuelle und kognitive Netzwerke gleichzeitig — eine Synergie, die beim maschinellen Schreiben teilweise verloren geht.

Diese Befunde illustrieren ein grundlegendes Prinzip der Neuroplastizität: Unser Gehirn ist bemerkenswert anpassungsfähig, aber diese Anpassung erfolgt in beide Richtungen. Werden spezifische Fähigkeiten regelmässig trainiert, stärken sich die entsprechenden neuronalen Bahnen. Werden sie vernachlässigt, schwächen sie sich ab.

Die ChatGPT-Studie fügt diesem Verständnis eine neue Dimension hinzu: Erstmals können wir in Echtzeit beobachten, wie KI-Unterstützung die Gehirnaktivität während komplexer kognitiver Aufgaben verändert. Die Daten zeigen, dass diese Veränderungen schneller und ausgeprägter auftreten als bisher angenommen.

Warum eigenes Denken durch nichts zu ersetzen ist

Die schwache Erinnerungsleistung der ChatGPT-Nutzer:innen lässt sich lernpsychologisch gut erklären. Ein Schlüsselbegriff ist der “Generierungseffekt”: Informationen, die wir selbst produzieren, bleiben deutlich besser im Gedächtnis haften als solche, die wir nur lesen oder hören. Dieser Effekt wurde bereits 1978 von Slamecka und Graf dokumentiert und in hunderten von Studien bestätigt.

Beim eigenständigen Formulieren aktivieren wir gleichzeitig Sprachzentren, Arbeitsgedächtnis und emotionale Assoziationen. Diese multiple Kodierung macht Erinnerungen robuster und leichter abrufbar. ChatGPT-generierte Texte durchlaufen diese Verarbeitungsschritte nicht — sie werden passiv konsumiert, nicht aktiv konstruiert.

Ein weiterer wichtiger Faktor sind die sogenannten “erwünschten Schwierigkeiten” (Desirable Difficulties). Forscher wie Robert Bjork haben gezeigt, dass moderate kognitive Herausforderungen den Lernprozess zwar kurzfristig erschweren, aber langfristig zu tieferem und stabileren Wissen führen. Das Ringen um die richtige Formulierung, das Suchen nach dem passenden Ausdruck — diese scheinbar mühsamen Prozesse sind essentiell für nachhaltiges Lernen.

ChatGPT eliminiert diese produktiven Schwierigkeiten. Es liefert sofort formulierte, oft eloquente Antworten, ohne dass wir uns anstrengen müssen. Das fühlt sich effizient an, untergräbt aber die kognitiven Mechanismen, die für echtes Verstehen und Behalten notwendig sind.

Hinzu kommt ein motivationaler Aspekt: Wenn wir uns aktiv mit einem Problem auseinandersetzen, investieren wir emotionale Energie. Diese Investition macht das Ergebnis wertvoller und merkwürdiger. KI-generierte Inhalte haben diesen emotionalen Wert nicht — sie sind austauschbar und unpersönlich.

https://rogerbasler.ch/2025/03/14/kognitives-offloading-wenn-technologie-uns-vergesslich-macht/

Langfristige Risiken und gesellschaftliche Herausforderungen

Die Persistenz der veränderten Gehirnaktivität auch nach Ende der KI-Nutzung ist besonders beunruhigend. Sie deutet auf neuroplastische Anpassungen hin, die sich nicht sofort umkehren lassen. Das Gehirn gewöhnt sich an die externe Unterstützung und reduziert seine eigene Aktivität entsprechend.

Langfristig könnte dies die kognitive Reserve schwächen — jenes mentale Polster, das uns gegen Stress, Alterung und neurologische Erkrankungen schützt. Die kognitive Reserve baut sich durch lebenslange intellektuelle Aktivität auf. Wer regelmässig komplexe Denkaufgaben löst, entwickelt robustere neuronale Netzwerke, die auch bei Schädigungen funktionsfähig bleiben.

Wenn wir zentrale kognitive Funktionen an KI auslagern, riskieren wir eine schleichende Atrophie unserer Denkfähigkeiten. Das betrifft nicht nur das Gedächtnis, sondern auch Kreativität, Problemlösungskompetenz und die Fähigkeit zur kritischen Analyse. Diese Fähigkeiten entwickeln sich nur durch aktive Nutzung — sie lassen sich nicht passiv erwerben.

Besonders kritisch ist die Situation für Kinder und Jugendliche, deren Gehirne sich noch in der Entwicklung befinden. Wenn sie von Anfang an mit KI-Unterstützung aufwachsen, könnten bestimmte kognitive Fähigkeiten möglicherweise gar nicht erst vollständig ausreifen. Die Langzeitfolgen sind noch völlig unerforscht.

Für Bildungseinrichtungen ergeben sich daraus dringende Handlungsbedarfe. Es braucht nicht nur Regeln für den KI-Einsatz, sondern auch aktive Förderung kognitiver Selbstständigkeit. Prüfungsformate müssen überarbeitet, Lernziele neu definiert und Bewertungskriterien an die veränderten Bedingungen angepasst werden.

Auch Unternehmen sollten die Erkenntnisse ernst nehmen. Wer Mitarbeitende systematisch durch KI “entlastet”, riskiert langfristig den Verlust wichtiger kognitiver Kompetenzen. Innovation und Kreativität entstehen nicht durch Delegation an Maschinen, sondern durch die aktive Auseinandersetzung mit Problemen und Herausforderungen.

Wie wir KI klug nutzen können

Die Lösung liegt nicht in der Verteufelung von KI, sondern in ihrer intelligenten Anwendung. Die MIT-Forscher:innen empfehlen einen “hybriden, phasenbasierten Ansatz”, der kognitive Eigenleistung erhält und gleichzeitig KI-Vorteile nutzt.

Das Grundprinzip ist simpel: Erst denken, dann delegieren. Konkret bedeutet das, zunächst 15–20 Minuten eigenständig zu arbeiten — Ideen zu entwickeln, Strukturen zu entwerfen, Argumente zu formulieren. Erst danach wird KI für spezifische Aufgaben hinzugezogen: Rechtschreibprüfung, Stilverbesserung, Formatierung.

Dieser Ansatz schützt die zentralen kognitiven Prozesse, während er gleichzeitig administrative Aufgaben erleichtert. Die Studie zeigt: Teilnehmende, die dieser Reihenfolge folgten, wiesen sowohl stärkere Gehirnaktivität als auch bessere Textqualität auf.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die aufgabenspezifische Nutzung. Für kreative und analytische Tätigkeiten sollte der Mensch in Vorleistung treten. Für formal-sprachliche Aufgaben kann KI durchaus entlasten. Diese Differenzierung hilft dabei, die Grenzen zwischen menschlicher und maschineller Kompetenz bewusst zu ziehen.

Besonders in Lernkontexten ist Vorsicht geboten. Während des Kompetenzerwerbs sollte eigenständige kognitive Aktivierung im Vordergrund stehen. In späteren Produktionsphasen kann KI dann zur Effizienzsteigerung beitragen. Eine klare Trennung von Lern- und Produktionskontexten ist dabei essentiell.

Das Ziel ist nicht, KI zu meiden, sondern sie als das zu nutzen, was sie ist: ein mächtiges Werkzeug. Wie jedes Werkzeug kann es nützlich oder schädlich sein — je nachdem, wie wir es einsetzen.

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Quellen und weitere Informationen

Kosmyna, N., et al. (2025). Your Brain on ChatGPT: Measuring Brain Activity during LLM-assisted Writing. arXiv. https://arxiv.org/abs/2506.08872

Sparrow, B., Liu, J., & Wegner, D. M. (2011). Google Effects on Memory: Cognitive Consequences of Having Information at Our Fingertips. Science, 333(6043), 776–778. https://doi.org/10.1126/science.1207745

Maguire, E. A., et al. (2006). Hippocampus, 16(12), 1091–1101 https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/17024677/

Stern, Y. (2002). Journal of the International Neuropsychological Society, 8(3), 448–460. https://www.cambridge.org/core/journals/journal-of-the-international-neuropsychological-society/article/abs/what-is-cognitive-reserve-theory-and-research-application-of-the-reserve-concept/B6524DF8FC814A462004141F7B19BCF4

Bjork, R. A. (1994). In J. Metcalfe & A. Shimamura (Eds.), Metacognition: Knowing about knowing (pp. 185–205). MIT Press. https://psycnet.apa.org/record/1994-97967-009

Slamecka, N. J., & Graf, P. (1978). Journal of Experimental Psychology, 4(6), 592–604. https://www.researchgate.net/publication/232485723_The_Generation_Effect_Delineation_of_a_Phenomenon

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