Warum wir vergessen, was wir jederzeit nachschlagen können – und was das für unser Denken bedeutet
Der Smartphone-Test: Eine ernüchternde Selbsterkenntnis
Kannst du noch zehn Telefonnummern auswendig? Weisst du, wie man ohne GPS von deinem Zuhause zum nächsten Krankenhaus fährt? Kannst du spontan fünf Hauptstädte europäischer Länder nennen, ohne nachzuschauen?
Falls du bei diesen Fragen ins Stocken gerätst, bist du nicht allein. Du erlebst das, was Wissenschaftler “digitale Amnesie” nennen – das systematische Vergessen von Informationen, die wir jederzeit digital abrufen können.
Dr. Merlin Donald, ein Kognitionswissenschaftler, beschreibt dieses Phänomen treffend: “Wir haben unser Gedächtnis externalisiert. Anstatt Informationen in unseren Köpfen zu speichern, speichern wir sie in unseren Geräten. Das Problem ist: Wenn die Geräte versagen, versagt auch unser Gedächtnis.”
Die Wissenschaft der digitalen Amnesie
Der Begriff “digitale Amnesie” wurde durch eine wegweisende Studie von Betsy Sparrow und ihren Kollegen an der Columbia University geprägt. In ihrer Forschung zum “Google-Effekt” zeigten sie, dass Menschen sich weniger an Informationen erinnern, wenn sie wissen, dass diese Informationen später verfügbar sein werden.
Das Experiment war elegant: Teilnehmer sollten sich Fakten merken. Einer Gruppe wurde gesagt, dass die Informationen später gelöscht würden, der anderen, dass sie gespeichert blieben. Die Gruppe, die wusste, dass die Informationen verfügbar bleiben würden, erinnerte sich signifikant schlechter an die Details, konnte aber besser angeben, wo die Informationen zu finden waren.
Diese Studie offenbarte einen fundamentalen Mechanismus unseres Gedächtnisses: Es ist adaptiv und effizient. Wenn externe Speicher verfügbar sind, konzentriert sich unser Gehirn darauf, zu wissen, wo Informationen zu finden sind, anstatt sie selbst zu speichern.
Use it or lose it: Dein Gehirn folgt einem einfachen Prinzip
Unser Gehirn folgt dem Prinzip “Use it or lose it” – nutze es oder verliere es. Diese Neuroplastizität ist normalerweise ein Vorteil, kann aber problematisch werden, wenn wir wichtige kognitive Fähigkeiten vernachlässigen.
Studien mit Londoner Taxifahrern zeigten, dass jahrelange Navigation zu strukturellen Veränderungen im Hippocampus führt – dem Gehirnbereich für räumliche Orientierung. Diese Fahrer entwickelten aussergewöhnliche Fähigkeiten zur räumlichen Navigation.
Umgekehrt zeigen neuere Studien besorgniserregende Trends: Menschen, die ausschliesslich GPS nutzen, zeigen reduzierte Aktivität im Hippocampus und schlechtere Leistungen bei räumlichen Gedächtnisaufgaben.
Smartphone-Abhängigkeit: Die Zahlen sprechen eine klare Sprache
Eine umfassende Studie des Cybersicherheitsunternehmens Kaspersky untersuchte digitale Amnesie in 12 Ländern mit über 10.000 Teilnehmern. Die Ergebnisse waren aufschlussreich:
- Telefonnummern: 71% der Befragten konnten nicht mehr als drei Telefonnummern auswendig – verglichen mit durchschnittlich 20 Nummern in den 1990er Jahren
- Wichtige Daten: 49% konnten das Geburtsdatum ihrer Kinder nicht ohne Nachschauen angeben
- Berufliches Wissen: 34% der Fachkräfte gaben zu, grundlegende berufliche Informationen nicht mehr im Kopf zu behalten
Die verschiedenen Arten des Gedächtnisses
Um die Auswirkungen der digitalen Amnesie zu verstehen, müssen wir die verschiedenen Arten des Gedächtnisses betrachten:
Arbeitsgedächtnis
Dies ist unser “mentaler Notizblock” – der Ort, wo wir Informationen temporär speichern und manipulieren. Studien zeigen, dass Menschen, die regelmässig externe Hilfsmittel nutzen, eine reduzierte Arbeitsgedächtniskapazität entwickeln.
Langzeitgedächtnis
Hier werden Informationen dauerhaft gespeichert. Digitale Amnesie betrifft besonders das deklarative Gedächtnis – unser Wissen über Fakten und Ereignisse.
Prozedurales Gedächtnis
Dies umfasst Fähigkeiten und Gewohnheiten. Interessanterweise ist dieser Bereich weniger von digitaler Amnesie betroffen, da körperliche Fähigkeiten schwerer zu externalisieren sind.
ChatGPT verstärkt das Problem
ChatGPT und ähnliche KI-Systeme verstärken die digitale Amnesie auf neue Weise. Während Google uns half, Informationen zu finden, kann ChatGPT komplexe Denkprozesse übernehmen. Eine Pilotstudie der ETH Zürich untersuchte 200 Studierende, die sechs Monate lang intensiv ChatGPT nutzten:
- 28% reduzierte Fähigkeit, sich an spezifische Fakten zu erinnern
- Verschlechterte Quellenkenntnis: Studierende konnten zunehmend weniger angeben, woher sie bestimmte Informationen hatten
- Veränderte Lernstrategien: Anstatt Informationen zu memorieren, konzentrierten sich Studierende darauf, effektive Prompts zu formulieren
Praktische Auswirkungen im Alltag
Navigation und räumliche Orientierung
Thomas, ein 35-jähriger Ingenieur: “Ich bin in München aufgewachsen, kenne die Stadt wie meine Westentasche – dachte ich. Als mein Handy kaputt war, habe ich mich in meiner eigenen Stadt verlaufen. Ich hatte völlig verlernt, auf Strassenschilder und Landmarken zu achten.”
Faktenwissen und Allgemeinbildung
Eine Langzeitstudie der Universität Oxford verfolgte 500 Studierende über vier Jahre und fand einen kontinuierlichen Rückgang des abrufbaren Faktenwissens, während die Fähigkeit zur Informationsbeschaffung konstant blieb.
Das Gedächtnis-Paradox
Hier ist ein faszinierendes Paradox: Je mehr wir unser Gedächtnis externalisieren, desto wichtiger wird es, ein gutes Gedächtnis zu haben. Warum? Weil nur wer bereits Wissen im Kopf hat, neue Informationen richtig einordnen, bewerten und verknüpfen kann.
Stell dir vor, du liest einen Artikel über Klimawandel. Wenn du bereits Grundwissen über Physik, Geschichte und Politik im Kopf hast, kannst du den Artikel kritisch bewerten, Widersprüche erkennen und ihn in einen grösseren Kontext einordnen. Ohne dieses Vorwissen bist du auf die Interpretation anderer angewiesen – oder auf ChatGPT.
Drei konkrete Strategien gegen digitale Amnesie
1. Das Gedächtnis-Workout: Bewusst memorieren
Wähle täglich bewusst etwas aus, das du auswendig lernen möchtest:
- Telefonnummern wichtiger Kontakte
- Gedichte oder Liedtexte
- Historische Daten oder wissenschaftliche Fakten
- Routen in deiner Stadt
- Rezepte für deine Lieblingsgerichte
Beginne mit 5 Minuten täglich. Nutze bewährte Memorierungstechniken:
- Chunking: Teile lange Informationen in kleinere Einheiten
- Visualisierung: Verknüpfe Fakten mit mentalen Bildern
- Wiederholung: Wiederhole Informationen in zunehmenden Abständen
2. Offline-Navigation: Trainiere deinen inneren Kompass
Fahre mindestens einmal pro Woche eine bekannte Strecke ohne GPS:
- Studiere vorher eine Karte (nicht digital!)
- Achte bewusst auf Landmarken und Strassenschilder
- Präge dir charakteristische Gebäude oder Kreuzungen ein
- Versuche, die Route aus dem Gedächtnis zu beschreiben
Erweitere diese Übung schrittweise auf unbekannte Routen. Nutze GPS nur als Backup, nicht als primäres Navigationsmittel.
3. Die Fakten-Challenge: Tägliches Wissensquiz
Stelle dir täglich drei Fragen zu verschiedenen Wissensbereichen und beantworte sie ohne externe Hilfe:
- Eine Frage zu aktuellen Ereignissen
- Eine Frage zu deinem Fachgebiet
- Eine Frage zu Allgemeinwissen
Beispiele:
- “Wer ist der aktuelle Bundeskanzler von Deutschland?”
- “Welche drei Hauptprinzipien gelten in meinem Berufsfeld?”
- “In welchem Jahr fiel die Berliner Mauer?”
Überprüfe deine Antworten erst nach dem Versuch. Führe eine Erfolgsstatistik und versuche, dich kontinuierlich zu verbessern.
Meine Empfehlung für dich
Beginne heute mit einem einfachen Experiment: Versuche, einen ganzen Tag lang ohne dein Smartphone zu navigieren. Nutze eine physische Karte oder frage Menschen nach dem Weg. Spüre, wie sich das anfühlt. Welche Fähigkeiten aktivierst du dabei? Welche Unsicherheiten entstehen?
Dein Gedächtnis ist zwar kein Muskel aber es funktioniert ähnlich wie ein Muskel. Auch wenn es schwächer geworden ist, kannst du es wieder trainieren. Jede Information, die du bewusst memorierst, jede Route, die du ohne GPS fährst, jeder Fakt, den du aus dem Kopf abrufst, macht dein Gedächtnis ein bisschen stärker.
Ein starkes Gedächtnis ist wie ein gut sortierter Werkzeugkasten: Je mehr Werkzeuge du hast, desto besser kannst du neue Probleme lösen. Ein leerer Werkzeugkasten macht dich abhängig von anderen – auch von KI.
Starte klein, aber starte heute. Lerne eine Telefonnummer auswendig. Merke dir den Weg zu einem neuen Ort. Präge dir drei interessante Fakten ein. Dein zukünftiges Ich wird es dir danken – und zwar aus dem Gedächtnis, nicht vom Smartphone.
Dein Gedächtnis ist dein wertvollstes Betriebssystem. Halte es stark, halte es aktiv, halte es lebendig.
Quellen und weitere Informationen
Conway, M. A. (2005). Memory and the self. Journal of Memory and Language, 53(4), 594-628. https://doi.org/10.1016/j.jml.2005.08.005
Donald, M. (2001). A mind so rare: The evolution of human consciousness. W. W. Norton & Company.
Henkel, L. A. (2014). Point-and-shoot memories: The influence of taking photos on memory for a museum tour. Psychological Science, 25(2), 396-402. https://doi.org/10.1177/0956797613504438
Ishikawa, T., Fujiwara, H., Imai, O., & Okabe, A. (2008). Wayfinding with a GPS-based mobile navigation system: A comparison with maps and direct experience. Journal of Environmental Psychology, 28(1), 74-82. https://doi.org/10.1016/j.jenvp.2007.09.002